Fotografie mit verdorbenem Korn
Heiko Schäfer
2024 (ongoing)
C-Print, Maße variabel, 2025 Silber-Gelatine-Prints, Maße variabel, 2025 Untertitel
1. Bild: Jean Genet: Der Balkon, Schauspiel, Merlin Verlag Hamburg, 1959.
Neuntes Bild [Blick in das Mausoleum, S. 218 f]
[Roger: Anführer der gescheiterten Revolution, im Foto links dargestellt von C.
Präsident: Polizeipräsident der Restauration, im Foto rechts dargestellt von Maximilian]
ROGER: […] Aber auch für den Helden wird nicht viel übrig bleiben … (Roger hat ein Messer herausgezogen und macht die Gebärde, sich selbst zu entmannen, […])
[…]
PRÄSIDENT: Gut gespielt! Er glaubt, mich zu besitzen. (er fasst ostentativ mit der Hand an seinen Hosenschlitz und fühlt nach seinen Hoden, dann seufzt er erleichtert auf) Es ist noch alles da. Wer von uns beiden ist also draufgegangen? Er oder ich? Und wenn mein Bild in allen Bordellen der Welt kastriert würde, ich werde unversehrt bleiben, unversehrt, meine Herren. (Schweigen) Dieser Klempner spielt schlecht, das ist alles. […]
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Der Titel von Heiko Schäfers Projekt Fotografie mit verdorbenem Korn (seit 2024) nimmt Inspiration von einer alten chassidischen Geschichte, die Yuval Kremnitzer an den Anfang seiner 2024 erschienenen Studie zur Rückkehr des Autoritarismus in der Gegenwart gestellt hat. Sie handelt von einem Sterndeuter, der seinen König davor warnt, dass die Getreideernte verdorben sei und alle, die davon essen, wahnsinnig werden würden. Mehr als den Wahnsinn fürchtet der König aber, von der Norm abzuweichen. Er und sein Sterndeuter sollen also auch von dem kontaminierten Getreide essen, und sich schlicht gegenseitig daran erinnern, dass sie »wahnsinnig« sind (1). Kremnitzer fragt:
»Haben wir nicht alle vom verdorbenen Korn gegessen? […] Indem wir die Realität als wahnsinnig bezeichnen, [tauschen] wir ein Zeichen aus einer für uns längst verlorenen Welt [aus]. Denn was könnte es bedeuten, zu wissen, tatsächlich zu wissen, dass wir wahnsinnig sind und in verrückten Zeiten leben? Versuchen wir nicht verzweifelt, uns selbst zu vergewissern, dass die Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Normalität weiterhin besteht, während wir letztlich eine entscheidende Schwelle, die beides – wie durchlässig auch immer – voneinander trennt, bereits überschritten haben?« (2)
Schäfer situiert seine Arbeit an diesem Scheidepunkt. Er fotografiert einen »ganz normalen« Arbeitsalltag als fragte er, ob wir es erkennen würden, wenn wir und die Menschen um uns herum wahnsinnig geworden wären. Fotografie mit verdorbenem Korn ist angelehnt an die bekannte Essay-Sammlung Photography against the Grain (1984) des amerikanischen Fotografen und Kritikers Allan Sekula. Sie beide eint die »Suche nach einem bestimmten ›Realismus‹ […] im und gegen den Griff des fortgeschrittenen Kapitalismus« (3). Sekula setzt dabei das Korn, also die Basis und innere Struktur der analogen Fotografie, mit den Strukturen kapitalistischer Gesellschaften gleich. Gegen die etablierten Normen zu fotografieren, hieß für ihn auch, gegen die Fotografie selbst anzuarbeiten; sie als soziale Praxis zu verstehen, die tief in unsere Beziehungen, Institutionen, Gesten und Umgangsformen eingebettet ist (4). Schäfer folgt diesem Beispiel, macht allerdings schon im Titel deutlich, dass er um das Paradoxon weiß, nicht ganz den Machtverhältnissen der Fotografie entfliehen zu können. Das Korn ist bereits verdorben und nun bleibt es uns nur noch, einander daran zu erinnern, dass auch wir womöglich wahnsinnig sind. […]
aus: Fotografie mit verdorbenem Korn, Jan Philipp Nühlen, Camera Austria Nr. 170 / 2025.
(1) Yuval Kremnitzer, The Emperor’s New Nudity. The return of Authoritarianism and the Digital Obscene, Cambridge, Massachusetts: The MIT Press 2024, S. xiii. / (2) Ebd., S. xvi–xvii. / (3) Allan Sekula, Photography Against the Grain: Essays and Photo Works, 1973–1983, Halifax, Nova Scotia: The Press of the Nova Scotia College of Art and Design 1984, ix–x, hier S. x. / (49 Ebd., S. ix–x.
Blind Production Makes Us A Sign
Heiko Schäfer
2023
Plane mit Schriftzug, 270 x 40 cm
C-Print, 50,8 x 61,0 cm
Blind Production Makes Us A Sign (2023) stellt sinnbildlich zwei Wegweiser für ein im Entstehen begriffenes Kollektiv dar. Dieses Kollektiv beobachtet die Signale und Zeichen des Anthropozän, weiß diese zu deuten und wird sie in neue Politiken umsetzen. Die Natur (Blind Production) ist dabei nicht ein Objekt zur Beobachtung, Erfahrung und Untersuchung, sondern stellt zugleich dieses Kollektiv selbst dar.
Disziplinierte Produktion
Heiko Schäfer
2021/2022
Silber-Gelatine-Print, 80 x 103 cm, nasskaschiert auf schwarz durchgefärbtem MDF Silber-Gelatine-Print (Kontaktprint), 250 x 29,7 cm, nasskaschiert auf schwarz durchgefärbtem MDF Offset-Druck schwarzweiß, 61,7 x 44,91 cm, montiert auf schwarz durchgefärbtem MDF Untertitel
Nach der Neuverteilung der Arbeit durch die "Agenda 2010" (2003-2005) im Zusammenhang mit der "Lissabon-Strategie", bei der es unter anderem zu einer im „Vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" („Hartz IV“) geregelten Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe kam, kennen meine und spätere Generationen den keynesianisch und auf Klassenkompromiss ausgerichteten Sozialstaat nur noch vom Hörensagen. Der Begriff der "Gerechtigkeit" ist für uns allenfalls ein Begriff mit historisch-abstraktem Gehalt, gesellschaftlich sozusagen „aus der Mode“ gekommen, aus der politischen Agenda verbannt. Er wurde ab 2003 erfolgreich transformiert, was zum Beispiel an der Verwendung des Schlagwortes "Respekt" statt "Gerechtigkeit" im letzten SPD-Wahlkampf und -Parteiprogramm im Sommer 2021, leicht nachgeprüft werden kann.
Ich gehöre nun nicht zu denjenigen, die für eine Rückkehr zu einem vermeintlichen Status Quo in der Vergangenheit plädieren, doch ich frage mich fast täglich, wie man in einem Staat wie der BRD und einem Staatengebilde wie der EU leben kann, ohne über oder an diesen Begriff wenigsten ab und zu einmal zu denken und ihn als ein von Gesellschaften dringlichst zu erstrebendes Ziel im alltäglichen Handeln und Denken leben und verankern zu wollen?
In dem Film "The Pervert's Guide to Ideology" (2012) bespricht Slavoj Žižek das Beispiel der von John Major 1993 in GB in seiner Kampagne "Back-to-Basics" etablierten Figur der arbeitslosen, alleinerziehenden Mutter, in der alles Böse der Gesellschaft verkörpert ist. Es handelt sich um eine Figur, die für die Gesellschaft hauptsächlich Kosten verursacht und deren Nachkommen aufgrund der mangelnden Fürsorge ein unproduktives, sogar schädliches Element darstellen. Dieses pseudo-konkrete Bild wurde, wie wir erlebt haben, auch in Deutschland von Politikerinnen, Medien, Journalistinnen , Theoretikerinnen und Forscherinnen in der Folge aufgegriffen.
Die Fotografien in "Disziplinierte Produktion" zeigen eine Reihe von sogenannten produktiven Tätigkeiten, die unter prekären Umständen mehr oder weniger „freiwillig“ von verschiedenen Personen meiner Generation ausgeführt werden. Es ist eine "disziplinierende" und "disziplinierte" soziale und volkswirtschaftliche Produktion, die da stattfindet, die durchweg in Verbindung mit dem Hartz-IV-System steht und deren autoritären Kern man, wie Christoph Butterwegge gezeigt hat, bis zur Bismarck'schen Sozialgesetzgebung zurückverfolgen kann. (1)
Die tiefgreifenden Änderungen und Eingriffe in die Sozialgesetze ab dem Jahr 2005, die gehäuften Verstöße der BRD gegen eben diese selbst gegebenen Gesetze in Verbindung mit einer Finanzierung des deutschen Wirtschaftsstandortes durch den EU-weit größten Niedriglohnsektor, dies alles sind Tatsachen, die den Hintergrund dieser Fotografien bilden und vor dem diese zu sehen sind. Sie markieren zum Einen einen historischen Punkt, an dem sich der Übergang von einer vergangenen Demokratie, die benachteiligten, sogenannten "plebejischen Interessen" eine Chance gab, hin zur gegenwärtigen Demokratie, dessen Wertesystem von Expert*innen verrechtlicht und in der Interessen somit nicht mehr durch den Streit der Bürger untereinander durchgesetzt werden können, festmachen lässt. (2) Zum Anderen zeigen sie ganz einfach den problematischen Zustand unseres Staates und der EU und die Nöte eines wachsenden Teils meiner und nachfolgender Generationen.
1 vgl. Christoph Butterwegge, Hartz IV und die Folgen, Auf dem Weg in eine andere Republik?, Weinheim 2015, S. 64.
2 vgl. Wolfgang Streeck, Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus, Zwischen Globalismus und Demokratie, Berlin 2021, S. 38.
Die Geschichte eines "wilden Streiks" in der BRD, der Fall Ritter
Heiko Schäfer
2022
5 Silber-Gelatine-Prints, 50,8 x 61 cm
2 Silber-Gelatine-Prints, 40,6 x 30,5 cm
9 Silber-Gelatine-Prints, Schrift-Kontaktprints, 40,6 x 30,5 cm
Schrift-Dokumente, Laserdruck schwarzweiß auf Kopierpapier, A4
Textilflagge
In Die Geschichte eines "wilden Streiks" in der BRD, der Fall Ritter beschäftigt sich Heiko Schäfer mit einem Arbeitskampf von hunderten von Erntehelfer:innen aus Polen, Rumänien und der Ukraine sowie der zuständigen Sektion der Freien-Arbeiterinnen-Union Bonn gegen den Konkursverwalter Schulte-Beckhausen und das Unternehmen Spargel Ritter in Bornheim im Mai 2020. Als „wilder Streik“ wird eine kollektive Arbeitsniederlegung einer Belegschaft bezeichnet, die unabhängig von Gewerkschaften einen Arbeitskampf führt (1). In der europäischen Geschichte gab es mehrere große Streiks dieser Art, etwa der Mai 1968 in Frankreich und Deutschland. In Italien entstand analog die Bewegung des Operaismus, zugleich wurde der Begriff der Arbeiterautonomie geprägt. Im angloamerikanischen Raum werden „wilde Streiks“ als wildcat strike bezeichnet.
Ein Streik, der ohne vorherigen Aufruf durch die Gewerkschaft erfolgt, ist nach geltender, aber umstrittener, deutscher Rechtsauffassung rechtswidrig, da er von keiner tariffähigen Partei geführt wird. Es handelt sich in solch einem Fall um eine bloße Arbeitsverweigerung, gegen die der Arbeitgeber individualrechtlich vorgehen kann (Abmahnung, Kündigung). Allerdings kann nach dem Bundesarbeitsgericht die Gewerkschaft einen solchen Streik nachträglich übernehmen und somit rechtfertigen (2).
Die Arbeit Die Geschichte eines "wilden Streiks" in der BRD, der Fall Ritter, die aus Fotografien, Internetrecherche, einem Gespräch mit einer Protagonistin der Gewerkschaft FAU Bonn sowie persönlichen Emails des Autors mit Beteiligten besteht, versucht die Ereignisse zu rekonstruieren und zu archivieren. Den Ausgangspunkt der Arbeit stellt ein persönliches Treffen des Autors mit einem verletzten Erntehelfer aus der Ukraine im Sommer 2021 in den ehemaligen Unterkünften des Spargelhofes Ritter dar. Im sich anschließenden Email-Kontakt mit dem Arbeiter, der wenige Tage später wieder in die Ukraine zurückfährt, erwähnt dieser seine schwierige persönliche Lage und die Kriegshandlungen im Donbas. Der Autor geht darauf jedoch nicht weiter ein. Erst mit dem russischen Überfall im Februar 2022 erinnert sich Heiko Schäfer an die Zeilen des Erntehelfers. Die Arbeit Die Geschichte eines 'wilden Streiks' in der BRD, der Fall Ritter* stellt also auch eine Reflexion über das Allein-Sein mit Leid und über Möglichkeiten und Bedingungen von Solidarität dar.
(1) Wikipedia: „Wilder Streik“. / (2) BAG Urt. vom 5. September 1955 – 1 AZR 480/54, zitiert nach: Wikipedia: „Wilder Streik“, Rechtliche Apsekte in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Arbeit in und an Aufmachungen
Heiko Schäfer
2018/2019
Heiko Schäfer, Die Arbeit in und an Aufmachungen, Laserdruck auf Kopierpapier, 80 gr, A4, 152 Seiten, Künstlerbuch, 2019
Silber-Gelatine-Prints, 50,8 x 61,0 cm
Bei der international beherrschten Arbeitsteilung für den Kleiderschrank des Davos Herren lässt dieser es sich nicht nehmen, wenigstens die Etiketten (Markenlogos) in den Bandwebereien in Wuppertal, Deutschland, produzieren zu lassen. Schließlich muss dieses Textil, das mit der eigenen Marke und Identität und damit mit der symbolischen Ordnung verbunden ist, scheinbar Qualität und Sozialstaatlichkeit auf das materielle Kleidungsstück übertragen. Dazu lässt der Davos Man hier verantwortungsvoll Arbeiterinnen im Label-Sicherheits-Wertschöpfungs-Käfig schuften, die historisch durch soziale Bewegungen erkämpften und vereinbarten acht Stunden am Tag ("Jeder Cent zählt!"). Wir sind alle froh um diese Industriearbeitsplätze und werden alles dafür tun, sie zu erhalten. Genau wie die dazugehörige Ordnung.
Ein anderes Beispiel (Zitat aus Zeitungsartikel, Süddeutschen Zeitung):
„Idriss [Textil-Unternehmer in Bangladesch] führt den Gast noch zu einem Käfig, in dem Markenlogos hinter dicken Schlössern aufbewahrt werden. Sie weisen die Ware erst als authentisch aus und geben ihr den Verkaufswert.“
Der 51. Kongress der CGT in Marseille 2016, eine filmische Begleitung über vier Tage
Heiko Schäfer
2016
digitales Video, 3d 17h 55min 31sec
Deux corps du travail, flipper
Heiko Schäfer
2015
digitales Foto-Video, 815 Fotografien, 1h 37min 11sec
Travailler avec les Chariot Bobines
Heiko Schäfer
2017
Heiko Schäfer: Travailler avec les Chariot Bobines, Offsetdruck, schwarzweiß, A4, 231 Seiten, Künstlerbuch, 2017
Gelatine-Silber-Prints, 50,8 x 40,6 cm.
Einführung: Die vorliegende Serie fotografischer Abbildungen zeigt die verschiedenen Etappen der Arbeiten zur „Préparation“ (dt.: Vorbereitung) der „Chariot Bobines“ (dt.: Spulen und „Schiffchen“ im Leavers-Webstuhl). Neben den Etappen der Kreation, der tatsächlichen Fabrikation (Webprozess) und der „Finition“ stellt die „Préparation“ einen wichtigen Bestandteil der industriellen Produktion der sog. Webspitze (fr.: dentelle) dar.
„Vor uns liegen Berge von Waren jeglicher Art, wie sie unmittelbar aus der Werkstatt, noch vom Schweiß der Arbeiter befeuchtet, hervorkommen, ...“1
Verweise: Dokumentarfilm: Calais, ils font dans la dentelle – Desseilles Laces, siehe: https://www.youtube.com/watch?v=n0erXTjVfYI, vgl. dort u.a.: 1) die drei Unternehmer, 2) die „unpolitischen“ ArbeiterInnen, 3) der entlassene Gewerkschafter („der Miesmacher“), 4) das Arbeitsgericht (fr.: les prud'hommes).
Formen der industriellen Gesellschaft in Europa im Jahr 2016.
Eine der beiden Fabriken, Codentel, wird während der künstlerischen Arbeiten vor Ort, 2016, an ein anderes Unternehmen verkauft. Die Arbeiter:innen wissen nicht, was ihnen widerfährt, und noch widerfahren wird. Der Himmel bricht über ihnen herein.
In der Fabrik hängen überall Plakate, die Marine Le Pen zeigen.